Im Schloss Wawel treffen zwei textile Welten aufeinander: die raue, räumliche Materie von Magdalena Abakanowicz und die filigranen Renaissance-Wandteppiche aus der königlichen Sammlung. Im abgedunkelten Senatssaal haben die Kuratoren den Innenraum in eine intime Bühne verwandelt, wo riesige Formen aus Sisal auf reich gewebte Landschaften und tierische Szenen aus Wolle, Seide und Metallfäden treffen. Diese einzigartige Gegenüberstellung ermöglicht es uns, Stoff als ein Medium zu sehen, das in der Lage ist, Macht zu manifestieren, während es sich andererseits für die individuelle Erfahrung des Betrachters öffnet. Die Ausstellung „Abakanowicz. Ohne Regeln. Arras und Abakane auf dem Wawel“ ist bis zum 6. Januar 2026 zu sehen.
Die Abakane, die aus den Wänden herausgeholt und im Raum aufgehängt wurden, umkreisen den Betrachter; ihre Beschaffenheit, ihr Gewicht und ihre Negation der klassischen Dekoration provozieren persönliche Lesarten und Reflexionen über die menschliche Existenz. Daneben erinnern die Wandteppiche – Grünspan mit Tier- und Landschaftsmotiven und eine monumentale biblische Szene von Noah – an die Rolle des Stoffes als Symbol für Prestige, Ordnung und politische Erzählung. Die Gegenüberstellung dieser beiden Traditionen offenbart unerwartete Parallelen: die Intensität der Textur, die Fähigkeit, eine Geschichte zu erzählen, aber auch der diametrale Unterschied in der Funktion.
Die Ausstellung zeigt die wichtigsten Werke von Abakanowicz: Red-Brown, Lady I, Lady II, Queen, Anita, Dorota, Dorota III, Ètroit, Abakan with Ropes, Black Garment 8 und Black (Black). Dazu gibt es eine Auswahl von Wandteppichen, darunter Szenen wie der Wolf, der einen Hasen verschlingt, der Fuchs, der einen Vogel und ein Kaninchen verschlingt, und der Kranich mit einer Schlange im Schnabel. Das Präsentationslayout und die gedämpfte Beleuchtung verstärken die Theatralik der Installation und laden zu einer langsamen, gemeinsamen und individuellen ästhetischen Erfahrung ein.
Die Ausstellung wirft Fragen zum Dialog zwischen historischem Erbe und zeitgenössischer Kunst im Raum der königlichen Residenz auf, zu den Bedeutungsverschiebungen, die entstehen, wenn ein traditionelles Machtsymbol an einer rebellischen und körperlichen Form gemessen wird. Das Kuratorenteam, bestehend aus Dr. Bogumiła Wiśniewska, Natalia Koziara-Ochęduszko und Andrzej Szczepaniak, hat eine Ausstellung zusammengestellt, die nicht so sehr erklärt, sondern vielmehr das Feld der Interpretation öffnet. Das Kuratorenteam erzählte uns von der Idee hinter der Ausstellung:
Die Ausstellung zeichnet sich durch die mutige Gegenüberstellung von Werken aus verschiedenen Epochen aus. Woher kam die Idee für eine solche Erzählung?
Die Idee entstand aus dem Bedürfnis, einen Dialog zwischen alter und zeitgenössischer Kunst zu eröffnen – zwischen dem Erbe des königlichen Wawel-Schlosses und der Sprache von Magdalena Abakanowicz aus dem 20. Jahrhunderts. Wir wollten, dass die Werke der Künstlerin, die normalerweise in neutralen Galerieräumen zu sehen sind, in den historischen und symbolischen Kontext des Ortes eindringen, an dem polnische Tradition und Moderne aufeinandertreffen. Unser Konzept entspringt auch dem Bedürfnis, über die Kontinuität der menschlichen Erfahrung zu sprechen – die Tatsache, dass, auch wenn sich die Epochen, die künstlerischen Sprachen und die Materie ändern, der Mensch immer im Mittelpunkt der Kunst steht: seine Gefühle, seine Spiritualität, seine Unsicherheit und sein Wunsch, die Welt zu verstehen.

Durch die Gegenüberstellung der Werke von Magdalena Abakanowicz mit den Wandteppichen von Sigismund Augustus wollten wir einen Raum der Begegnung zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart schaffen – zwischen der Welt der Renaissanceordnung und der zeitgenössischen Erfahrung von Fragmentierung und Angst. Das Wawel-Schloss, ein Ort mit vielschichtiger Geschichte, bot sich als natürliche Kulisse für einen solchen Dialog an. Die Ausstellung „Abakanowicz. Ohne Regeln“ ist eine Einladung, über die Tatsache nachzudenken, dass Kunst, unabhängig von der Zeit, eine Aufzeichnung der menschlichen Art und Weise ist, in der Welt zu sein – und ein Versuch, ihre Grenzen zu überschreiten.
Welche Kriterien waren für die Auswahl bestimmter Abakanowiczs und Wandteppiche ausschlaggebend?
Die Auswahl bestimmter Werke war nicht willkürlich – wir haben uns nicht so sehr von formalen Ähnlichkeiten leiten lassen, sondern von der ideologischen Verwandtschaft und der humanistischen Botschaft, die Textilien verbindet, die mehrere Jahrhunderte auseinander liegen. Sowohl die Tapisserien von Sigismund Augustus als auch die Abakane von Magdalena Abakanowicz erzählen eine Geschichte über den Menschen und seinen Platz in der Welt, über Spiritualität, Natur und die Zerbrechlichkeit der Existenz.
Die Wandteppiche wurden in der Renaissance geschaffen – einer Zeit des Glaubens an die Harmonie der Schöpfung, die Ordnung der Welt und das göttliche Prinzip, das das Schicksal des Menschen lenkt. Ihre reiche Ikonographie – biblische Szenen, Tier- und Landschaftsmotive – spiegelt die Weltsicht der Renaissance wider, in der der Mensch Teil der kosmischen Ordnung war. Die vier Jahrhunderte später entstandenen Abacanas hingegen zeugen bereits von der Angst der Neuzeit – dem Verlust dieser Harmonie, dem Versuch der Sinnsuche in einer Welt voller Unsicherheit und Vergänglichkeit.
In dieser Spannung, in dieser Unterschiedlichkeit der Erfahrungen, liegt eine tiefe Einheit. Sowohl die Wandteppiche als auch die Abacanas sprechen in der Sprache der Materie über den Zustand des Menschen – über menschliche Gefühle, Spiritualität und das Bedürfnis nach Transzendenz. Wenn man sie in einem Raum nebeneinander stellt, kann man die Kontinuität der menschlichen Fragen nach der Existenz, der Beziehung zur Natur und der Bedeutung der Kreativität im Angesicht der Zeit erkennen. Es ist ein Zusammentreffen von zwei Epochen, aber einer Reflexion: dass Kunst ein Weg ist, sich selbst zu verstehen.
Wie berücksichtigt das Ausstellungskonzept die funktionalen Unterschiede zwischen Textilien des 16. und des 20. Jahrhunderts – höfische Dekoration versus skulpturale Autonomie der Abakusse?
Dieser Unterschied steht im Mittelpunkt der Ausstellung. Die Wandteppiche der Renaissance hatten eine repräsentative Funktion – sie waren Teil des höfischen Rituals, ein Symbol für Macht und Reichtum. Die Abakusse hingegen brechen mit der dekorativen Funktion – sie sind befreite Textilien, die zu einer Skulptur, einem Organismus, einer Metapher für den Menschen werden. In der Gegenüberstellung dieser beiden Welten zeigt sich ein Wandel im Denken über die Kunst und den Menschen: von einem in die Ordnung der Welt eingeschriebenen Wesen zu einem suchenden, einsamen Wesen, das nach dem Sinn fragt.
Das Konzept der Ausstellung versucht nicht, diese Unterschiede zu überbrücken – im Gegenteil, es stellt sie als einen Raum für den Dialog aus. Der Betrachter soll selbst spüren, dass beide Arten von Stoffen Formen spiritueller Erfahrung sind – der eine spricht die Sprache der Harmonie, der andere die Sprache der Angst, aber in beiden pulsiert das gleiche Bedürfnis, die Welt durch die Kunst zu verstehen.

Warum wurde gerade der Senatorensaal ausgewählt, und wie beeinflussen seine Geschichte und Architektur die Wahrnehmung der Gegenüberstellung?
Das Senatorenzimmer ist ein einzigartiger Raum – nicht nur repräsentativ, sondern auch durchdrungen von der Symbolik eines Ortes, an dem wichtige Entscheidungen der polnischen Geschichte getroffen wurden. Hier nehmen die Tradition und die Majestät des königlichen Hofes eine fast sakrale Dimension an. Die Einführung von Abacanas in diesen Raum, modernen, organischen Werken, die vor Emotionen pulsieren, schafft einen Kontrast, der – paradoxerweise – die Harmonie nicht zerstört, sondern sie vertieft. In dem abgedunkelten Raum ohne Mobiliar und mit abgedeckten Fenstern beginnen die Stoffe im Rhythmus der Geschichte des Ortes zu „atmen“. Der Betrachter ist eingeladen, in der Stille, im Halbdunkel, wo Vergangenheit und Gegenwart zusammenkommen, zu kontemplieren.
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Kuratorenführungen sind für den 15. und 29. November geplant, Eintrittskarten sind erhältlich. Darüber hinaus wird im Rahmen der Ausstellung ein Abakanowicz-Vortrag organisiert . Arrases und Abacanas auf dem Wawel, der von Dr. Bogumiła Wiśniewska und Natalia Koziara-Ochęduszko gehalten wird. Der Vortrag findet am 13. November statt, die Teilnahme ist kostenlos. Das Königsschloss Wawel hat außerdem weitere Veranstaltungen zur Ausstellung geplant. Die vollständige Liste finden Sie HIER.
Abakanowicz. Ohne Regeln. Arrasen und Abakanien auf dem Wawel
Kuratorenteam der Ausstellung: Dr. Bogumiła Wiśniewska, Natalia Koziara-Ochęduszko, Andrzej Szczepaniak
Zeit: 17. Oktober 2025 – 6. Januar 2026
Ort: Königliches Schloss Wawel – Staatliche Kunstsammlungen
31-001 Kraków, Wawel 5
quelle: Redaktion
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