Das Zentrum der Hauptstadt entwickelt sich nicht nur mit futuristischen Bürogebäuden weiter. Die Herzen der Warschauer werden durch die sukzessive Wiederbelebung der an historischer Bausubstanz reichen Komplexe erobert. Unter ihnen verdienen die „Monumentalbauten“ des polnischen Modernismus besondere Aufmerksamkeit. Sie bestechen durch ihre Schlichtheit und Funktionalität, obwohl sie nicht völlig frei von Details waren. Ein herausragendes Beispiel dafür ist die Skulptur eines Adlers und eine Inschrift, die das Gebäude des ehemaligen Fernmeldeamtes in der Nowogrodzka-Straße 45 in Warschau schmücken.
Inwieweit inspiriert der Modernismus mit seiner Maxime „weniger ist mehr“ die Bauherren in der Hauptstadt heute? Entsprechen die Art déco-Details, die hochwertiges Material mit schlichten Formen verbinden, dem Stil der Gegenwart? Gemeinsam mit dem Historiker und Varsavianisten Adrian Sobieszczański werden wir nach Antworten auf diese Fragen suchen und dabei das „Telegrafengebäude“ betrachten – eine Ikone der polnischen Moderne, die nun ein zweites Leben erhalten soll.
Adrian Sobieszczański:
In der Nowogrodzka-Straße 45 b. Das Fernmeldeamt ist eine der größten Leistungen der polnischen Architektur der Zwischenkriegszeit. Das moderne, konstruktivistische Gebäude, dessen Fassade durch eine einzigartige Verzierung in Form des Staatswappens und der Aufschrift „INTERNATIONALES TELEFON, TELEGRAPH, RADJOTELEGRAPH“ belebt wurde, unterstreicht die Bedeutung, die die Zweite Republik der Telekommunikation beimaß. Das Kommunizieren, Senden und Empfangen von Informationen war einer der Eckpfeiler für das effiziente Funktionieren des jungen Staates. Ein sichtbares Zeichen dieser Bestrebungen wurde das Gebäude, das durch seine Form, aber auch durch seine einzigartige Dekoration und die verwendeten Materialien die Ambitionen und Bestrebungen des jungen, modernen Staates zum Ausdruck brachte.
Das zwischen 1928 und 1933 errichtete moderne Gebäude des Fernmeldeamtes war nicht nur einesder größten öffentlichen Gebäude Warschaus, sondern auch einesder strukturell komplexesten Gebäude der damaligen Hauptstadt. Im Mittelpunkt stand sein Zweck, denn neben dem Fernsprechamt, dem Telegrafenamt oder dem Postamt sollte es eine Schule für Fernmeldewesen, ein Museum für Post und Fernmeldewesen, soziale Einrichtungen für 1.300 Angestellte und die technische Abteilung des Ministeriums für Post und Telegrafie beherbergen. Dank der Verwendung unterschiedlicher Volumen hat das Gebäude eine ungewöhnlich hohe Ausdruckskraft.
Der Art-déco-Adler oder das Detail der Avantgarde
In der Zwischenkriegszeit suchten die Bauwerke der Moderne nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten für ästhetische Lösungen. Der Modernismus, dessen Ursprünge in den Worten „weniger ist mehr“ liegen, war eine Reaktion auf die mit Dekor überladene Architektur des 19. Die Architektur der Moderne sollte vom Detail im früheren Sinne befreit werden, wobei die Reinheit der Masse geschätzt wurde. Das Detail verschwand nicht völlig, sondern veränderte nur seinen Charakter. Seine Funktion wurde u. a. durch strukturelle Elemente oder die verwendeten Materialien übernommen.
Ein solcher Ansatz wurde bei dem spektakulären Projekt in der Nowogrodzka-Straße 45 verfolgt. Über dem Haupteingang des Gebäudes befindet sich eine dekorative Inschrift aus Metall: TELEPHONE OF THE INTERNATIONAL CITY – RADIOTELEGRAPH und eine rechteckige Tafel mit einem stilisierten Adler im Geiste desArt déco.Sowohl der Adler als auch die Inschrift sind durch Gesimse getrennt. Die graue Silhouette des Adlers, die sich von dem roten Sandstein abhebt, wird durch vertikale und horizontale Linien, Halbkreise und Dreiecke gebildet. Der Adler, dem Zeitgeist entsprechend verarbeitet, fügt sich sensationell in die Architektur des modernen Gebäudes ein.

Im Vorkriegspolen war die Anbringung von Adlerabbildungen an den Fassaden staatlicher Gebäude ein sichtbarer Teil der Begeisterung über die wiedergewonnene Unabhängigkeit. Das Emblem an der Fassade des Fernmeldeamtes wurde von Jan Goliński geschaffen. Der Adler erinnert an eine der originellsten Darstellungen des Staatswappens, die 1925 von Stanisław Szukalski geschaffen wurde. Interessanterweise war der Urheber des Adlers – der Architekt und Bildhauer Jan Golinski – einer der Initiatoren des SARP.
Roter Sandstein und Terrazzo
Die Verkleidung der Fassade des Fernmeldeamtsgebäudes mit rotem Sandstein und hellem Edelterazzoputz hatte eine erstaunliche Wirkung. Die Steinverkleidung, die an den Fassaden öffentlicher Gebäude verwendet wird, verlieh selbst einfachen und flachen Fassaden Plastizität. Der Naturstein betonte auch den Charakter des Gebäudes. Der 42 m hohe Turmteil auf der Seite der Poznańska-Straße wurde mit vertikalen Leisten verkleidet, um den Eindruck der Monotonie zu vermeiden.
Der rote Sandstein wurde mit edlem Putz kontrastiert. Zu den damals verwendeten Materialien gehörten vor allem die edlen Terrazit-Mörtel, die eine auffällige Farbe mit kristalliner Struktur ermöglichten. Die Firma Terrazyt bot fast 500 Putzsorten in zahlreichen Farben an.

Zu den luxuriösen und zugleich haltbaren Oberflächenmaterialien, die in den Innenräumen des Nowogrodzka-Gebäudes verwendet wurden, gehörte grauer Terrazzo mit schwarzen Streifenfolgen. Diese Art von Bodenbelag begann in den 1920er Jahren eine schwindelerregende Karriere.
Terrazzo ist eines der ältesten Verkleidungsmaterialien. Die scheinbar einfache Herstellung, bei der Zement, Farbstoff und Splitt (Marmor, Granit, Basalt oder Porphyr) miteinander vermischt werden, führte zu starken und dauerhaften Oberflächen, die geschliffen und poliert werden konnten, so dass der Glanz von Naturstein entstand. In den 1920er und 1930er Jahren wurde neben dem grauen Terrazzo auch Terrazzo in den Farben Rosa, Schwarz, Grün, Braun und Gelb verwendet. Terrazzoböden boten eine ästhetisch ansprechende und dauerhafte Oberfläche, die nicht nur die Inneneinrichtung ergänzte, sondern oft auch das dominierende Gestaltungselement war.
Die Kunst der Schlichtheit
Die schlichten Formen des „Telegrafengebäudes“, die modernen technischen Lösungen und die Funktionalität, die in den Vordergrund treten, waren das Markenzeichen der öffentlichen Gebäude der Zwischenkriegszeit. Betrachtet man die berühmtesten Gebäude dieser Art im heutigen Warschau, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sich der Kreis der Geschichte geschlossen hat. Wie in der Vergangenheit richtet sich die Aufmerksamkeit auf das Neue, das Pionierhafte, das Unorthodoxe und das Originelle. Der modernistische Stil, der mit glatten Oberflächen, unkomplizierten Formen und Leichtigkeit assoziiert wird, scheint mit dem universellen menschlichen Wunsch nach Harmonie und Frieden zu harmonieren. Dank der Wiederbelebung mehrerer historischer Gebäude hat Warschau heute die Möglichkeit, sich auf moderne und doch nachhaltige und wertvolle Weise zu entwickeln und dabei die Kunstfertigkeit und das Erbe der Vergangenheit zu zeigen.
ZEITGEIST Asset Management ist für die Revitalisierung des historischen Gebäudes in der Nowogrodzka-Straße 45 in Warschau verantwortlich.
text: Adrian Sobieszczański
quelle: ZEITGEIST Asset Management
zeitgenössische Farbfotos: eigenes Material von ZEITGEIST Asset Management
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