Przyczółek Grochowski
Osiedle obecnie. Źródło: Tadeusz Rudzki, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Die Przyczółek-Grochowski-Siedlung – ein utopisches Projekt der Warschauer Moderne

Die modernistische Przyczółek-Grochowski-Siedlung, auch bekannt als “Pekin”, wurde Ende der 1960er und Anfang der 1970er Jahre an der Kreuzung von Saska Kępa, Grochów und Gocław gebaut. Sie besteht aus einem einzigen, mehrfach unterbrochenen Wohnblock und ist mit einer Länge von 1,5 km eines der längsten Gebäude in Polen. Es wurde von einem Ehepaar, den Hansens, entworfen und basiert auf der von ihnen entwickelten Theorie des so genannten Linearen Kontinuierlichen Systems. Charakteristisch für das Gebäude sind Außengalerien anstelle von Treppen (jede Wohnung hat einen Ausgang ins Freie). Diese Lösung diente der Integration der Bewohner. Das ungewöhnliche Design erfreute sich großer Beliebtheit.

Przyczółek Grochowski ist auch als Osiedle Hansenów bekannt – nach dem Namen der Architekten. Es befindet sich im Viertel der Straßen Ostrzycka, Motorowa, Żymirskiego, Kwarciana und Bracławska. Der Koloss ist in 23 Gebäude mit eigenen Adressen unterteilt. Die Siedlung umfasst 1.800 Wohnungen mit einer Gesamtfläche von 85.000 m². Sie wurde mit dem Ziel entwickelt, einen idealen Lebensraum für 7.000 Menschen zu schaffen.

Modell der Wohnsiedlung Przyczółek Gocławski – Foto aus der Wochenzeitung Stolica, Nr. 17 (1272) vom 23.04.1972

Die Hansens erstellten 1963 den Entwurf für die Siedlung, deren Bau fünf Jahre später begann und 1974 abgeschlossen wurde. Marek Konieczny und Józef Staniszewski waren für die bauliche Gestaltung der Gebäude verantwortlich. Nach dem Konzept seiner Schöpfer sollte Przyczółek Grochowski eine ideale Wohnsiedlung sein, die einen leichten Zugang zu den Wohnungen, eine hervorragende interne Kommunikation und eine Trennung von Auto- und Fußgängerverkehr bietet. Das Ergebnis der Arbeit war ein langgestreckter Block mit einem dem Buchstaben “M” ähnlichen Grundriss, der drei halboffene Höfe umschließt. Der Block hat zwischen vier und sieben Stockwerke. Jedes Stockwerk verfügt über öffentlich zugängliche, überdachte Verkehrsgalerien, die u. a. die Nutzung eines weiteren Treppenhauses ermöglichten, wenn die Aufzüge ausfielen. Da das Gebäude eine durchgehende Struktur hatte, war der Zugang zu den Galerien theoretisch für jeden Bewohner möglich. Der Zugang zu den Wohnungen erfolgt direkt von der Galerie aus. Erwähnenswert ist auch, dass die Wohneinheiten selbst eine längliche Form haben. Nach Hansens Plänen sollte Przyczółek Grochowski eine “kontinuierliche, halboffene soziale Raumzeit mit einem geschlossenen, intimen Lebensraum” sein. Der Architekt entwickelte die utopische Idee der Offenen Form. Sie ist das Gegenteil von Closed Form, d. h. von Gebäuden, die so konzipiert sind, dass sie den Bewohnern keine Möglichkeit geben, ihre Kreativität zu entfalten, und in denen es sich daher nicht gut leben lässt.

Przyczółek Grochowski
Quelle: Tadeusz Rudzki, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Die Trennung von Auto- und Fußgängerverkehr wurde durch die Verwendung von Fußgängerbrücken über die Straßen der Siedlung erreicht. Um die verschiedenen Gebäudeteile leichter identifizieren zu können, wurden grafische Schilder verwendet, von denen heute leider keine Spur mehr vorhanden ist. Die Wohnungen werden nicht über Treppenhäuser, sondern direkt über die Galerien betreten. Diese sollten ursprünglich 3 m breit sein, wurden aber auf 2 m reduziert. Außerdem sollten sie etwas von den Blöcken zurückgesetzt sein, um zu verhindern, dass man in die Fenster schauen kann. Außerdem sollten schallschluckende Materialien verwendet werden, um den Komfort der Bewohner zu verbessern. Letztendlich wurde jedoch Beton verwendet, der den Lärm nur noch verstärkt.

Die Siedlung heute. Quelle: Tadeusz Rudzki, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Leider entsprach Przyczółek Grochowski nicht unbedingt den ursprünglichen Absichten seiner Erbauer. Die Bewohner fühlten sich mit den zu den Galerien hin gelegenen Fenstern nicht wohl, weshalb sie die Fensteröffnungen mit dicken Vorhängen oder Rollos verdeckten, Gitter anbrachten oder sogar zumauerten. Solche Lösungen beeinträchtigen jedoch das Sonnenlicht in der Wohnung. Das Problem der dunklen Wohnungen entsteht auch dadurch, dass sich die Gebäude überschneiden und die überdachten Gänge dort dunkle Tunnel bilden. Wenn es schneit, müssen die Bewohner auf den Galerien auf rutschige Oberflächen achten, und wenn es regnet, verursachen die Rinnen in den Betonfluren viel Lärm. Die dünnen Wände und die architektonische Gestaltung verursachen ebenfalls Lärm, der von den meisten Anwohnern als störend empfunden wird. Die Hunderte von Metern langen Kommunikationsgänge aus Beton vermitteln ebenfalls kein Gefühl der Behaglichkeit. Infolgedessen hat sich ein an sich freundlicher Raum in einen unfreundlichen und desintegrierten Raum verwandelt.

Die Siedlung heute. Quelle: Tadeusz Rudzki, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons

Das Leben in Przyczółek Grochowski hat auch seine Vorteile. Zu den Vorteilen gehören die Trennung von Auto- und Fußgängerverkehr und die Beschränkung der Zufahrtsmöglichkeiten für Fahrzeuge, so dass sich die Anwohner nicht über den Lärm von z. B. Müllwagen ärgern müssen. Es wird auch viel über die Sicherheit in der Siedlung gesprochen. Auch die Nähe zum See und die vielen Grünflächen werden von den Bewohnern als Pluspunkte genannt.

Die Hansen-Siedlung hat von Anfang an Emotionen geweckt. Das Projekt wurde sowohl in nationalen als auch in internationalen Architekturzeitschriften veröffentlicht. Fachleute waren neugierig auf die avantgardistische Struktur dieser Idee. Heute gilt es als eines der interessantesten architektonischen Experimente der kommunistischen Ära.

Quelle: krn.pl, iwaw.pl, topo-grafie.uw.edu.pl

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